Bereits für unsere Vorfahren, die Früh-
oder
Vor-menschen,
wurde die Religiosität als überlebenswichtiges Verhaltensmerkmal
entwickelt (s. Kapitel Religiöse Weltbilder).
Mystik und Religiosität - ererbte Verhaltensweisen - sind daher in
den Fundamenten aller Kulturen zu finden. Für den aufgeklärten
(im
Kant'schen Sinne!) Menschen, wieder unter Berücksichtigung der
Exemplarstreuung (s. Gauss'sche Verteilung), müssen diese Verhaltensweisen
nicht mehr als lebensnotwendig betrachtet werden. Aber die Reaktionszeit
der Evolution liegt jenseits überschaubarer Zeiträume.
Im Kapitel Weltbilder in der Praxis
wurde über die Verteilung der religiösen Durchdringung geschrieben.
Hier sollen noch einmal die extremen Positionen, also die Randbereiche
(s.
auch Tabelle auf der Philosophieseite
)
der
Normalverteilung gegenübergestellt werden. Das ist die Gruppe derer,
die die Bibel in vollem Umfang als Gottes Wort betrachten
(die Kreationisten)
und die Gruppe derer, in deren Weltbild kein Platz für einen Gott
ist. Im Internet sind gelegentlich Diskussionen zwischen beiden Gruppen
dokumentiert, die dann irgendwann ergebnislos eingestellt werden. Mir fiel
angenehm auf, dass manche Auseinandersetzungen trotz unvereinbarer Standpunkte
in einem seriösen Stil geführt wurden. Mir fiel weiter auf, dass
die Diskutierenden nicht merkten, dass es zu keiner Annäherung kommen
kann, weil in beiden Lagern völlig verschieden (nicht nur inhaltlich,
sondern prinzipiell) gedacht wird. Die verschiedenen Standpunkte werden
durch verschieden ausgeprägte Merkmale des Verstandes gestützt:
In einem Fall dominiert das Glaubensbedürfnis - im anderen Fall die
wissenschaftliche Neugier. Wenn ein Bibeltreuer argumentiert, er habe auch
Physik studiert, zeigt das nur einmal mehr die Macht der Gene bzw.
die Folgen frühkindlicher Prägung (s. auch Kapitel über
religiöse Weltbilder), kann aber auch als Indiz für die Beweisnot
interpretiert werden.
Wer die Bibel als Gottes Wort (im Sinne der Bibel) betrachtet,
findet bereits alle Fragen beantwortet. Denn dieser Gott ist die höchste
Instanz, die Wahrheit schlechthin. Daraus folgt logischerweise, dass es
keine anderen Wahrheiten geben kann. So weit, so gut. Was spricht gegen
ein geschlossenes Weltbild, aus dem man die Kraft für das Leben schöpfen
kann? Mir persönlich ist nur nicht klar geworden, wie man in diesem
Fall mit den Scheußlichkeiten, die auch in der Bibel stehen und von
keinem geringeren als von dem biblischen Gott selbst kommen, umgeht. Wenn
mir jemand dazu eine erhellende mail senden würde, wäre ich sehr
dankbar. "Man müsse die Bibel natürlich richtig lesen", zieht
nicht. (Ich habe mich mit den historischen Zusammenhängen befasst
und auch richtig lesen gelernt.)
Hier ist eine erhaltene Antwort
auf diese Frage wiedergegeben:
Wenn doch alles gut war, warum
hat Gott dann das Böse zugelassen? Das ist doch die Frage , oder ?
Auf diese und auf Ihre Frage
, kann ich nur eine Antwort geben : DURCH LEID ZUR HERRLICHKEIT .
Was soll das , der Mensch soll
LERNEN , das geht aber am besten durch LEIDEN . Wir sehen gerade heute
wie durch den TERROR , der Mensch zum LERNEN gezwungen ist, gerade heute
ist ein UMDENKEN ein NEUORIENTIEREN ein GROSSES LERNEN im gange
. Letzten endes ist allein Gott, hinter allen SCHLÄGEN die wir bekommen
VERANTWORTLICH. Nur muss ein Gott der LIEBE , das BÖSE nicht selber
machen , dafür hat er den BÖSEN zugelassen. (Von Heinz Gaub,
http://home.t-online.de/home/hgaub)
Also wieder ein Ansatz zum Diskutieren.
Warum soll man aber nicht die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ignorieren? Jeder ist schließlich seines Glückes eigener Schmied.
Die Chefideologen einiger dieser Glaubensgemeinschaften gehen
jedoch weiter. Sie empfehlen mehr oder weniger dringlich, keine andere
Lektüre als die Bibel und die Schriften der Gemeinschaft zu benutzen.
Das ist auch nicht schlimm, das haben die Kirchen früher auch getan.
Es gibt Gemeinschaften, die noch weiter gehen: Sie bezeichnen alle anderen
Weltanschauungen als Lüge, einschließlich der Naturwissenschaftlichen.
(In
der Konsequenz also einen Nobelpreisträger als Lügner.)
Dieser
letzte Punkt ist nach meiner Auffassung völlig unnötig und bei
einigen Glaubensgemeinschaften auch in der Geschichte des Ursprungslandes
USA begründet. Warum aber nicht, alle Gemeinschaftsmitglieder sind
schließlich freiwillig dort und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.
Wenn da nicht die Kinder wären, die ja irgendwann mit dieser frühkindlichen
Prägung mit einem Platz in einer Industriegesellschaft konfrontiert
werden. Damit rückt eine solche Gemeinschaft an den Rand der Gemeingefährlichkeit.
Dass auch die Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung als
konkurrierender und falscher Glaube gesehen werden, ergibt sich zwangsläufig
aus der oben geschilderten Problematik und kann daher nicht wegdiskutiert
werden. Weitere Begründungen, in denen die mathematischen Grundlagen
ignoriert und die entsprechenden Messungen als Irrtümer bezeichnet
werden, haben bereits Unterhaltungswert. Charles
Darwin stellt eines der beliebtesten Feindbilder dar. Allerdings in völliger
Unkenntnis dessen, was dieser vor mehr als 140 bzw. 130 Jahren veröffentlicht
hat. Man ist bei längst weiterentwickelten Standpunkten des 19. Jahrhunderts
stehen geblieben.
Man stößt auch im Internet auf fundamentalistische Kreationisten,
die alle anderen Auffassungen als Lügen und Wissenschaftler als Lügner
und Täuscher bezeichnen. Andersdenkenden wird neben Verlogenheit
auch Blödheit und Schwachsinnigkeit bescheinigt.
Ein aufschlussreiches Beispiel für eine solche Position finden Sie
hier
(externe
Adresse). Im Gegenzug können sich aus der Sicht eines rationalen
Verstandes solche Standpunkte zuweilen als
geistig verwirrt darstellen.
Im Kapitel Denkräume wird darauf näher
eingegangen.
Über diese Zusammenhänge müssten sich die Vertreter
des wissenschaftlichen Lagers im klaren sein, bevor sie in eine Diskussion
einsteigen und sich über deren Ergebnislosigkeit wundern.
Das Dilemma liegt noch tiefer: Das oben beschriebenen Weltbild
ist mit einem hochspezialisierten Organismus vergleichbar, um wieder einen
Vergleich aus der biologischen Evolution heranzuziehen: Wenn das kleine
niedliche Koala- Bärchen nicht die Blätter von ganz bestimmten
Eukalyptusbäumen fressen kann, muss es ins Gras beissen. Wer sich
zu einem so einseitigen Standpunkt als Fundament seiner Kultur verstiegen
hat, wird manövrierunfähig und muss tatsächlich die Ergebnisse
moderner wissenschaftlicher Forschung fürchten, denn diese könnten
das Kulturgebäude zum Einsturz bringen. Das dies jedoch für ein
modernes christlich-religiöses Weltbild unnötig ist, zeigt der
gegenwärtige Papst, der sich längst an die Evolution gewöhnt
hat und mit Stephen W. Hawking bereits einen small-talk über
den Urknall geführt hat. Aber die Uhr tickt und man nimmt nicht zur
Kenntnis, wie spät es ist. Die kulturelle Migration der Menschheit
hat begonnen. Viele werden auf der Strecke bleiben.
Lesen Sie dazu auch:
Dr. Traugott Flamm (Wiesbaden):Glaube oder
Wissen? Wie wird die Kirche auf die Herausforderung durch die Wissenschaften
reagieren? (Aufklärung und Kritik 2/1999) und:
Darwin - Generalangriff auf die Dogmen der Kirche. Wissenschaft kontra
Theologie (Aufklärung und Kritik 1/2001) (s. Literaturverzeichnis).
Im Gegenzug werde ich nun versuchen darzustellen, warum naturwissenschaftliche Weltanschauungen nicht geglaubt werden können. Ausnahmsweise nicht am Beispiel der biologischen Evolution, denn auf diese wurde in den übrigen Kapiteln eingegangen.
Dem viel und heiß diskutierten Urknall liegt eine weltweit
anerkannte Theorie zugrunde. Das war nicht immer so. Seit mit den Methoden
der Physik
(Schwierigkeitsgrad Oberstufe Gymnasium) die Rotverschiebung,
der Wasserstoff-Helium Anteil im Universum und die kosmische Hintergrundstrahlung
gemessen wurden, sehen konkurrierende Theorien alt aus. Denn nur durch
eine konkurrierende Theorie, die das Universum (oder das, was wir beobachten)
noch besser erklären kann oder durch eine neue Physik, wäre die
Urknall-Theorie zu kippen. Nach den Regeln der Evolution muss sich auch
eine Theorie, eine These und jeder Gedanke mit konkurrierenden Produkten
auseinandersetzen, um das Überleben kämpfen. Das Urknall-Modell
kränkelt hin und wieder, aber es lebt! (Man kann
diese Theorie auch als "Krücke" bezeichnen, weil die Vorstellung einer
sich ausdehnenden Raum-Zeit sehr viel schwerer vorstellbar ist).
Hier liegt bereits ein fundamentaler Unterschied zum Glauben: Wer glaubt,
hält etwas, was er nicht weiß, für wahr. Wenn Gottes Wort
in der Bibel die Wahrheit ist, kann es keine Alternative und keine neuen
Erkenntnisse geben. Die Urknalltheorie beansprucht nicht, Wahrheit zu sein.
Die Wahrheit, die Wirklichkeit des Seins, ist mit unserem Verstand bis
auf weiteres nicht erfassbar. Diese Theorie ist nur ein Modell, das
heute die im Universum von uns beobachteten Vorgänge am besten auf
der Basis unserer Physik erklären kann. Eine anerkannte Theorie
zu sein bedeutet nur, dass darauf mit weiteren Thesen aufgebaut
werden kann. Zum Beispiel: Die Möglichkeit beliebig vieler Universen
ist eine ergänzende wissenschaftliche These, die sich nicht beweisen
lässt. Verlockend ist sie, weil sie einige neue Erklärungsmöglichkeiten
bietet. In der nächsten Ebene stossen wir in den Bereich der nicht
wissenschaftlichen Spekulationen vor.
Noch eine Anmerkung für alle die meinen, dass Naturwissenschaftler
an ihre Theorien glauben würden: Ein Naturwissenschaftler schlägt
vor, er glaubt nicht. Er schlägt vor, einen Zusammenhang in bestimmter
Weise zu diskutieren und baut darauf auf, nicht mehr. Wissenschaftliche
Theorien werden durch Ergebnisse von Messungen und mathematische Gleichungen
gestützt.
Es kann also keine Wissenschaftsgläubigkeit geben! Nur wer sich
mit den Naturwissenschaften nicht befasst, diese ignoriert oder nicht versteht,
also im Grunde nicht weiß worüber er da redet, kann dies als
einen
(konkurrierenden) Glauben betrachten.
Diskussionen zwischen den hier beschriebenen Gruppen können demnach nicht in den Bereich Erfahrungsaustausch einsortiert werden, sie sind dem Missionarstrieb, also dem Weitergebenwollen unserer Überzeugungen, zuzurechnen. Wir wollen das Überleben der eigenen Kultur (bzw. Weltanschauung) sichern.
Die verschiedenen Denkräume, in denen sich die vorgenannten Gruppen
befinden, werden durch die Leistungen unseres Gehirns ausgemalt:
Die Leistungen unseres Gehirns sind wunderbar und das in vielerlei
Hinsicht. Es versorgt uns mit den Ergebnissen, die wir haben wollen. Es
denkt nur logisch, kritisch oder vernünftig, wenn wir es dahingehend
trainieren. Es denkt das, was wir denken wollen, es liefert die Bilder,
die wir sehen wollen. Verschiedene Perspektiven und Positionen führen
zu unterschiedlichen Denkmodellen und Weltbildern. Rabbiner Nathan Peter
Levinson ist z. Bsp. in der Lage, das Alte Testament
wie folgt zu beleuchten: Es bedarf schon eines gerüttelten Maßes
an Verdrängung, den Monotheismus des Alten Testaments für "menschenfeindlich,
strukturell gewalttätig" anzusehen und damit die Dinge genau auf den
Kopf zu stellen. Rabbiner Nathan Peter Levinsohn
in: DIE WELT 29.5.1999.
Franz Buggle, Psychologe, geb. 1933 dagegen schreibt:
Die
Bibel - und zwar nicht nur das Alte, sondern auch das Neue Testament -
ist in zentralen Teilen ein gewalttätig-inhumanes Buch, als Grundlage
einer heute verantwortbaren Ethik ungeeignet.
Wenn man an die Wiedergeburt glaubt und sich mehr und mehr in diese
Vorstellung hineinarbeitet, wird das Gehirn alle benötigten Bilder
aus früheren Leben liefern. Es wird in manchen Fällen vollständige
Abläufe (Filme) aus den vermeintlich früheren Leben generieren,
wie es auch in unseren Träumen geschieht. Auch unsere Träume
greifen auf Informationen zurück, die tief in unserem Gehirn gespeichert
sind. Weil man sich dieser Informationen nicht bewusst ist, wird man dann
erst recht von dem bzw. den früherem(n) Leben überzeugt sein.
Wer mit dieser Arbeitsweise des Gehirns nicht vertraut ist, hat keinen
Grund an der Existenz dieser virtuellen Denkräume, bei diesem Beispiel
an der Existenz früherer Leben, zu zweifeln, schließlich hat
er die
Beweise selbst erlebt.
Wer rational und wissenschaftlich denkt und die Natur beobachtet
(sehend und nicht nur guckend), wird zu dem Schluss kommen,
dass das Thema Wiedergeburt Ergebnis menschlichen Wunschdenkens
und des Glaubensbedürfnisses ist.
Kreationisten, die den Inhalt der Bibel als Gottes Wort und damit als
die absolute Wahrheit betrachten, werden von ihrem Gehirn mit den für
dieses Weltbild zweckmäßigen Gedankengängen unterstützt.
Aber nur weil sie so denken wollen. Und auch in diesem Fall zweifelt man
nicht an den Leistungen des Gehirns. Die Chefideologen einiger dieser Glaubensgemeinschaften
verabreichen ihren Mitgliedern vorsorglich eine Gehirnwäsche auf
Raten, die alternative Denkräume versiegelt (==>Zum Beispiel WTG).
Wer das biblische Weltbild mit einem kritisch denkendem Verstand hinterfragt,
sich mit den vorchristlichen Kulturen und der geistigen Verfassung eines
primitiven Hirtenvolkes vor vier- bis dreitausend Jahren auseinandersetzt
und eine Vielzahl alternativer Erklärungsmöglichkeiten für
die Aussagen der Bibel mit einbezieht und diese nach den Regeln der Vernunft
und dem Geist des zwanzigsten Jahrhunderts prüft und vor allem den
Zweck, für den die verschiedenen Schriften der Bibel geschrieben wurden
analysiert, wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu völlig anderen
Ergebnissen kommen. (Im Literaturverzeichnis wird diesbezüglich
auf einige interessante Aufsätze hingewiesen.)
Oder anders formuliert: Man kann in den Geschichtsbüchern
nachlesen, aus welchen Kulturen und Kulten, aus welchen Beweggründen
und von wem die Grundlagen des Christentums in mehreren Schritten zusammengebastelt
wurden. Man kann die Geschichtsbücher aber auch ignorieren. Das
allerdings hat der Menschheit noch niemals weitergeholfen!
Der folgende Satz aus der vom Vatikan am 29.11.1998 herausgegebenen Verkündigungsbulle des großen Jubiläums des Jahres 2000 eignet sich für eine Analyse bzw. Diskussion über die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten im Rahmen der oben beschriebenen Denkmuster:
Einen weiteren kreationistischen Kommentar zum Artikel
von S. Rusdie finden Sie hier, allerdings
mit einigen Anmerkungen von mir ergänzt.
Perspektiven: Wer arm ist, wird einen Milliardär für etwas ganz außergewöhnliches, fast undenkbares aus einer Traumwelt halten. Ein Milliardär sieht das anders. Er wird sagen, dass dies schließlich jeder werden könne, denn er sei es ja auch nur geworden. Er wird vermutlich seine Welt für normal halten. Viele Touristen haben ihren Urlaub schon in eingezäunten und bewachten zoologischen Gärten (andere Bezeichnung: Ressort - Ferienhotelanlage) verbracht und sich vermutlich wohlgefühlt. Für die Mehrheit der Erdbevölkerung undenkbar.
Mit der Thematik der Leistungen unseres Gehirns befasst sich das Buch von Karl R. Popper, John C. Eccles, 1989: Das Ich und sein Gehirn (s. Literaturverzeichnis)