Die mächtigste Kraft der
Welt ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
Voltaire, Philosoph (1694
-1778)
Die (biologische) Evolution des Lebens begann auf unserem Planeten vor ca. dreieinhalb Milliarden Jahren. Vor einigen Millionen Jahren, also etwa mit dem letzten tausendstel dieses Zeitraumes, begann die Evolution des Geistes. Die Abläufe in beiden Phasen sind prinzipiell vergleichbar. Über die biologische Evolution wird seit zweihundert Jahren nachgedacht und geschrieben und das fordert unser Vorstellungsvermögen - wegen der unvorstellbar grossen Zeiträume immer wieder aufs neue - heraus. Den Ablauf der Evolution des Geistes aber, können wir selbst und gegenwartsbezogen beobachten.
Stufe 1: Lehnen Sie sich entspannt zurück und versuchen
sie an nichts zu denken. Sie haben das sicher schon gelegentlich
versucht (manche Übungen beginnen bekanntlich so) und womöglich
festgestellt, dass das gar nicht so ohne weiteres funktioniert. Je mehr
man versucht nichts zu denken, desto mehr Ideen schiessen durch
den Kopf. Alles Mögliche! Geistige Kleinorganismen, die versuchen,
möglichst lange am Leben zu bleiben. Qualität und Lebensdauer
werden durch den Verstand (die Umwelt) beeinflusst, sind also durch
dessen individuelle Ausprägung und die aktuelle Situation (z. durch
Stress) beeinflusst. Auch hier wirkt Diversifikation als Prinzip. Die
Gedankenvielfalt lässt nach, sobald sich ein Gedanke durchsetzt, am
Leben bleibt. Er hat die erste Runde im Kampf ums Überleben gewonnen,
er konnte sich in der Umwelt (in der Auseinandersetzung mit unserem
Verstand und mit konkurrierenden Ideen) am besten behaupten.
Der Weg der Evolution ist mühsam. Unser Geist muss eine Vielzahl
und Vielfalt an Gedanken hervorbringen (die meisten sind flüchtiger
Natur, d.h. überleben nur kurz), um die Chance für "überlebensfähige"
Gedanken zu erhöhen. Es ist also offensichtlich nicht möglich,
gezielt einen guten (überlebensfähigen) Gedanken hervorzubringen.
Das ermöglicht erst die Selektion durch die Umwelt.
Man macht sich dieses Prinzip zunutze, indem man bewusst, möglichst
in der Gruppe, eine Vielzahl von Gedanken (Ideen) produziert, an
die Tafel schreibt, gemeinsam bzgl. der Brauchbarkeit bewertet, selektiert
und weiterentwickelt. Dabei ist es wichtig keine Gedanken zu unterdrücken,
also nicht zu versuchen für unsinnig gehaltene Ideen zurückzuhalten,
dies würde die Kreativität einschränken.
Unternehmensberater verkaufen und trainieren diese Methode unter der
Bezeichnung "Brainstorming" (das macht es etwas teurer). Wir nannten
das früher "Blödeln" und hatten es umsonst.
Lebensfähige Organismen können in der Natur
nicht gezielt hervorgebracht werden. Sich selbst organisierende, nach dem
Zufallsprinzip entstehende instabile Strukturen werden der Umwelt zur Selektion
angeboten. Zunächst gilt: Masse vor Klasse.
Aber
der größere Teil der Lösungen (bzw. Lösungsansätze)
wird wieder Verworfen.
Stufe 2: Am nächsten Morgen, unser Gedanke hat die
Nacht überlebt, sich zu einer konkreten Idee gemausert. Er wird nun
versuchen, sich zu vermehren, zu reproduzieren und sich dabei mit brauchbaren
Elementen ähnlicher Gedanken zu kreuzen und damit seine Überlebensfähigkeit
weiter abzusichern. Er entwickelt sich zu einer komplexeren Form und vergrössert
seine Basis, er beansprucht den Lebensraum (unseren Verstand) für
sich.
Denn wir konnten es ja kaum erwarten, gleich am nächsten Tag mit
unseren Nächsten über die neue Idee, den guten Gedanken zu sprechen.
Das kann natürlich immer noch schief gehen: Unser Gesprächspartner
könnte die ganze Idee mit einem überzeugenden Argument zunichte
machen. Aber dann wäre nichts dran gewesen und eine Verbreitung wäre
nicht sinnvoll. Was nicht heissen soll, das wir diesen Gedanken verwerfen,
wir können ihn ganz still in uns aufbewahren, evtl. weiter mit ihm
arbeiten, vielleicht war seine Zeit noch nicht reif.
Im anderen Fall wird sich der Gesprächspartner mit dem Gedankengang
anfreunden, diesen mit einigen Hinweisen weiter entwickeln und am Abend
sind wir schon zu zweit. Weil das zur Sicherung des Überlebens nicht
reicht, (die Sache wäre womöglich nach einigen Tagen vergessen),
wird eine weitere qualitative und quantitative Entwicklung erforderlich.
Wir missionieren und versuchen Sympathisanten zu gewinnen. Der neue (geistige)
Organismus wird versuchen, sich weiterer Wirte zu bemächtigen, d.h.,
deren Immunsystem zu überwinden.
Die Weiterentwicklung von Organismen ist nur möglich,
wenn Lebensraum (eine freie Nische) zur Verfügung steht.
Erst wenn alle Nischen eines Lebensraumes besetzt sind, kann ein funktionsfähiges
Ganzes (das, was wir als Perfektion der Natur erkennen) entstehen.
Differenzierung ist Prinzip.
Stufe 3: Noch immer ist der kleine geistige Organismus
schwach und vom Aussterben bedroht. Die qualitative und quantitative Entwicklung
kann stagnieren, es reicht evtl. zur Gründung einer Interessengemeinschaft
oder eines Vereins. Der Organismus bekommt ein Zuhause, wird zum Haustier.
Aber
er entwickelt sich nicht weiter, bleibt bedeutungslos.
Im günstigsten Fall stossen wir immer wieder auf Menschen, die
auch schon in unserer Richtung gedacht haben, die Zeit war offenbar reif
für die Besiedlung dieser kulturellen Nische. Eine geistige Strömung
setzt ein, die kritische Masse ist erreicht. Wie auch in der biologischen
Evolution, kann nun eine explosionsartige Entwicklung einsetzen (S.
auch Kapitel: Am Beispiel der letzte Jahrhunderte), u.
U. an mehreren Orten Gleichzeitig. Im Nachhinein ist daher der Entstehungsort
einer Art nicht mehr zweifelsfrei lokalisierbar (das gilt sowohl für
eine geistige Entwicklung als auch z.B. für die Menschwwerdeung in
der biologischen Evolution). Die blitzartige Ausbreitung
eines Modetanzes, eines musikalischen Stils, einer Art sich zu kleiden
oder einer politischen Strömung bzw. einer Weltanschauung, folgen
alle diesen Mechanismen. Richard Dawkins (s. Literaturverzeichnis)
bezeichnet solche sich ausbreitenden Informationsmuster als Meme.
Auch im SPIEGEL Nr. 21/1999 wird dazu berichtet (Feuchtbiotop
im Schädel).
Der Ansturm zur Besiedlung einer freien Nische findet
auf breiter Front statt, damit das Ziel auf jeden Fall erreicht werden
kann. Die Natur kann nicht beurteilen, wann eine Nische im Lebensraum gross
genug ist (Beispiel Saurier), sie hat aber ein Mittel
gegen die rücksichtslose Dominanz einer Art bereit: Je höher
der Grad der Spezialisierung, desto höher wird deren Anfälligkeit
gegen Veränderungen der Umwelt. Denn eine Rückentwicklung zu
einem früheren Zustand ist nicht möglich. Je weiter die Spezialisierung
fortgeschritten ist, desto geringer wird die Anpassungsfähigkeit.
Auch eine Population muss eine kritische Masse erreichen, um überleben
zu können.
Stufe 4: Was mit der Entwicklung eines Gedankenganges
begann, ist nun zu einem kollektiven - und damit mächtigen - geistigen
Organismus gediehen. Einer geistigen Strömung, die die Entwicklung
einer Kultur beeinflusst oder schliesslich zur Grundlage einer Kultur geworden
ist. Das Überleben ist für längere Zeit (Jahrtausende
in einigen bekannten Fällen) gesichert. Organismen hoher Komplexität
müssen sich in stärkerem Masse den Veränderungen der Zeit
anpassen, als solche mit geringerer Komplexität. Kulturen haben ihre
Zeit, je mehr spezialisiert und je weniger anpassungsfähig diese sind,
je kürzer ist die Lebensdauer. Es sei denn, diese wird durch eine
Gewaltherrschaft verlängert.
Nicht nur die Besetzung fast aller Lebensräume
durch eine dominante (mächtige) Art (bzw. Gattung)
stellt
eine Gewaltherrschaft dar, auch die Gewaltherrschaft in einer Kultur, wie
sie durch die Kirche mehr als tausend Jahre praktiziert wurde. Die Saurier
hatten keine Chance für eine Anpassung an die veränderte Umwelt.
Eine Kultur hat diese, wenn Sie sich öffnet und den Veränderungen
stellt. Werden neue Arten oder Kulturen hervorgebracht,
so werden durch diese wieder neue Nischen geschaffen, andere können
überflüssig werden. Damit wird auch die Weiterentwicklung zum
Prinzip der Natur.
Stufe 5: Eine ohne Ausübung von Gewalt überlebensfähige Kultur muss Platz (Lebensraum) für alle Mitglieder der Gesellschaft bieten. Sie muss Veränderung zulassen und sich weiterentwickeln. Sonst bilden sich nach dem beschriebenen Prinzip Subkulturen, die bald Anspruch auf Lebensraum geltend machen. In geschichtlicher Zeit sind bereits einige Kulturen wieder untergegangen.
Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels (s.
Literaturverzeichnis)