Eine starke Dezimierung der Arten durch Naturkatastrophen führt zu einem neuen Evolutionsschub. Die freigewordenen Nischen werden durch neue Arten besetzt, ausgestorbene Arten können nicht noch einmal entwickelt werden. Vergleichbare Mechanismen wirken bei der Evolution des Geistes, der Kulturen. Eine kulturelle Epoche hat eine Geburtsphase mit starken Wehen, entwickelt sich zu einer Phase des Kraft und Blüte, muss sich mit konkurrierenden Strömungen auseinandersetzen, ist irgendwann verbraucht und zeigt Kraftlosigkeit, stirbt schließlich oder entwickelt sich zu nächsten Epoche weiter. Dies gilt auch für geistige Strömungen innerhalb einer Kultur. Das Anpassungsvermögen ist maßgebend für die Lebensdauer. Größere kriegerische Auseinandersetzungen der Völker sind typisch für die Übergangsphasen. Kulturelle Evolutionsschübe, die gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Welt einsetzten, fanden schon vor 5000 und vor 2500 Jahren statt. In Indien gab es vermutlich vor mehr als 5000 Jahren ein reges Kulturleben, dessen Niveau in den Ursprungsländern der europäischen Kulturen erst sehr viel später erreicht wurde. Dass wir keine weiter zurückreichenden Zeugnisse finden konnten, bedeutet nicht, dass es keine früheren gab.
Wenn auch schon in der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg die Vernunft erste Gehversuche machte, scheiterte jede Ausbreitung der Ideen an der durch Hexenwahn und Aberglauben dominierten kirchlichen Macht. Der Kampf der Glaubensbekenntnisse eskalierte zum 30-jährigen Krieg. Erst der dadurch bedingte Kahlschlag an Mensch und Kultur ermöglichte eine stürmische Ausbreitung der neuen geistigen Strömungen, des Zeitgeistes in Philosophie, Naturwissenschaften und künstlerischem Schaffen. Das Abenteuer des Geistes, der Vormarsch des Wissens, der Angriff auf das Christentum, sind Formulierungen, die Will Durant in seiner Kulturgeschichte der Menschheit (s. Literaturverzeichnis) für die Epoche nach 1648 verwendet. Andersdenkende wurden noch diskriminiert und isoliert (wie z.B. der Philosoph Spinoza), aber sie konnten ihren Kopf behalten. (Der Philosoph Bruno wurde noch im Jahre 1600 bei lebendigem Leibe, unter reger Beteiligung von Katastrophengaffern, verbrannt - was den "seine Heiligkeit" bis heute nicht stört.)
Die Gründung zahlreicher Buchdruckereien und Universitäten begünstigte die Kommunikation, die gegenseitige Beeinflussung und Zusammenarbeit der Wissenschaftler, sodass der kollektive Organismus der neuen geistigen Strömungen die für eine rasche Ausbreitung erforderliche kritische Masse schnell erreichen konnte. Es entwickelten sich kulturelle Elemente, die noch heute die Fundamente unserer Gesellschaft bilden und deren Qualität bisher nicht übertroffen werden konnte. Prof. Dr. Gisela Schlüter befasst sich in ihrem Aufsatz: Die europäische Gelehrtenrepublik. Eine Skizze(Aufklärung und Kritik 1/2001, s. Literaturverzeichnis) mit diesem Thema und beschreibt die zeitgeschichtlichen Besonderheiten dieser Kommunikation.
Folgende Aufstellung zeigt eine kleine Auswahl wesentlicher Philosophen
und Naturwissenschaftler der 250 Jahre nach dem 30-jährigen Krieg,
deren Werke auch heute ihren Wert haben, bzw. aktueller denn je erscheinen..
Für ein umfassendes Verständnis müssen auch die hundert
Jahre vor dem 30- jährigen Krieg betrachtet werden, in denen bereites
der Samen für die neue Epoche gesät wurde.
Zeitskala
__1700______1800______1900
Diese kulturellen Strömungen können, ebenso wie biologische
Organismen, nur einmal entstehen. Wenn das Fenster dafür offen
steht, bilden sie sich häufig an mehreren Orten gleichzeitig. Ein
gutes Beispiel dafür ist die Entstehung des Jazz in den Südstaaten
der USA, insbesondere in New Orleans. Aus der Vermischung kultureller
Elemente entstanden neue. Aber eine Vermischung kultureller Elemente braucht
Druck, weil diese dem Überlebenstrieb der einzelnen Kulturen
entgegensteht. Daher kann diese kulturelle Vermischung in den meisten
Fällen nur durch Kriege erreicht werden (Bürgerkriege führten
auch in den USA nicht nur zur politischen Einheit). Fehlt der Druck
durch Bürger- und Eroberungskriege, so kann die kulturelle Weiterentwicklung
zum Stillstand kommen, was z. B. bei der australischen Urbevölkerung
beobachtbar war.
Die Neigung der Menschen zu grausamen und menschenverachtenden Kriegen
muss daher auch aus dieser Perspektive analysiert werden. Wie auch in der
biologischen Evolution beobachtbar, durch Katastrophen entsteht neues Leben.
Und noch ein Schritt zurück: Nur die Explosion eines Sternes kann
die zur Entstehung von Planeten erforderliche Materie freisetzen. Die Evolution
braucht Katastrophen, die diesbezügliche Faszination vieler Menschen
(Katastrophenfilme,
Katastrophengaffer, ...), die auch zu beobachtende Lust am Töten
unter Massenhysterie nicht nur zu biblischen Zeiten, ist vermutlich systemimmanent.